Politik ignoriert „das langsame Sterben“
- Erich Cagran
- 31. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Der Gletscherabbruch im Schweizer Blatten und die befürchtete Flutwelle lässt den Grazer Katastrophenforscher Gerhard Grossmann Alarm schlagen: „Die Katastrophen-Intervention gehört auf höheres Niveau gestellt. Auch hier in Graz”, so Grossmann im Exklusivgespräch mit graz.live.

Die Grundformel, von der Grazer Univ.-Prof. Gerhard Grossmann, Österreichs führender Katastrophenforscher ausgeht: „Wenn du die Situation nicht kontrollierst, kontrolliert die Situation dich“. Das sieht er bei den unfassbaren Ereignissen über dem Schweizer Dorf Blatten ebenso, wie bei den immer häufiger werdenden, mannigfaltigen Katastrophenfällen – weltweit, wie auch in Österreich. Und auch in Graz.
Dass in der Schweiz die Bewohner rechtzeitig noch evakuiert werden konnten, ist das Gute im Unfassbaren. Dass man aber so lang dem Entstehen der Katastrophe zugesehen, ist für Grossmann unverständlich. „Wir investieren in high-tech unter dem Motto: koste es, was es wolle“. Wir haben Drohnen, Traktoren mähen Wiesen über GPS, wir starten und landen Raketen wieder am Boden. Ferngesteuertes Gerät hätte auch im Fall von Blatten kein Problem sein dürfen. Auch die KI hätte hier eine entscheidende Hilfe sein können. Sollte man meinen…

Fehlende Perma-Frost-Situation führt zum Spreng-Effekt
Freilich, so Grossmann, geht man nicht in Lawinenkegel hinein. Aber in diesem Falle hätte man mit Drohnenüberwachung gut und gerne mit einem ferngesteuerten Gerät früh einen Abfluss schaffen können – das Wasser hätte den Rest ohnedies selbst gemacht. „Als Forscher weisen wir seit Jahrzehnten auf diese nun vielfach losbrechenden Szenarien hin, aber…“. Hintergrund: „Der Klimawandel bewirkt, dass die „Perma-Frost-Situation“ uns nun überholt“, was auch der Permafrost-Experte Christophe Lambiel von der Uni Lausanne als Ursache von Blatten nennt. Unter Perma-Frost“ ist der Frost zwischen den Felsspalten zu verstehen, der im Winter nicht mehr durchgehend gegeben ist. Durch wechselhafte Frost-Tau-Situationen kommt es zu diesem Sprengeffekt, wie nun in der Schweiz.
„Ich vermisse Reaktionen aus Österreich“
„Mein Wunsch wäre“, so Grossmann, „dass die Katastrophenintervention auf ein höheres Niveau gestellt wird, ein anderer Zugang und andere Mechanismen gefunden werden. Hierzulande, aber auch, siehe Beispiel Schweiz, liegt der Schwerpunkt auf dem Prinzip Hoffnung – es wird schon irgendwie gehen. Und wenn nicht: das Bundesheer wird`s schon richten. Die Prävention jedoch wird nie und nirgends ernsthaft angegangen“. Und, nicht zu vergessen, die Schweiz ist nicht so weit von uns entfernt – wir tun aber so, als wäre Österreich ein Flachland. „Ja, ich vermisse Reaktionen in Österreich – außer Medienberichte rührt sich nichts“.
Konkret kritisiert Grossmann also die Politik, die „nicht über den Tellerrand“ hinausschaut. „Denkbare Szenarien erwarte ich mir von den Politikern, die jedoch – da wie dort – keinen Mumm und keine Interventionsstrategie haben. Von Politikern hört man stets: wir sind gerüstet - aber es ist nicht einmal zu hören wofür oder wogegen. Freilich fehlt den Politikern die Expertise für Konzepte für diese komplexe Querschnittsmaterie. Es gibt aber Fachleute, von denen sie sich innovative Konzept erarbeiten und vorlegen lassen sollen. Aber leider werden Ansätze neuer Mechanismen nicht einmal noch diskutiert“.
„Das langsame Sterben“
Dabei gibt es seit vielen Jahren mehr als genügend wissenschaftliche Grundlagen. Diese werden aber schlichtweg ignoriert, wie Grossmann festhält. Er selbst hat bereits 1996 im Europaverlag der Wissenschaft das umfangreiche Werk „Das langsame Sterben“ verfasst. „Auf rund 60 Seiten habe ich darin konkrete Vorschläge zu diesen immer aktuelleren Fragen gemacht – wie man Gewässer nutzen kann, wie Bäche sicherheitstechnisch zu naturieren wären, wie man unterirdische Seen auf Bergen erkennen und entschärfen kann und vieles mehr“.
Apropos Gewässer. Die Seefahrt ist ein gutes Beispiel multifunktionaler Prävention. „Aus eigener Erfahrung kenne ich die Seenot-Instrumente. In Deutschland etwa gibt es die Gesellschaft für Seebrüchige, das italienische Gegenstück ist die Guardia Costiera Ausiliaria, beide sind mit dem öffentlichen Zivilschutz zusammengeschlossen“. Diese Hilfsorganisationen sind straff organisiert, haben jeweils rund 60.000 Helfer und auf individuelle Bedürfnisse abgestimmtes Bootsmaterial – unsinkbare Schiffe, deren Genehmigung international längst universell sind.
Katastrophenforschung ohne öffentliche Finanzierung
Um neue Mechanismen im fortschreitenden Klimawandel und den damit einher gehenden immer häufiger und heftiger auftretenden Katastrophenereignissen zeitgemäß begegnen zu können, spricht Grossmann den Möglichkeiten der KI das Wort. „Aber keine Angst: die KI entscheidet nicht, das tut immer noch der Mensch“. Die KI kann aber eine nicht unwesentliche Hilfe, insbesondere bei Stress-Situationen sein. Dass Grossmann selbst und namens einer Ausbildungs-Akademie für das „Grüne Kreuz“ St. Stefan/Stainz aktiv im Geschehen ist, zeigt er anhand seines mobilen „Emergency Operation Center“ für die Katastrophenforschung. Anhand der technischen Ausstattung lassen sich vor Ort Risikoprofile erstellen, Präventivmaßnahmen setzen und nötigenfalls auch Einsatzorganisationen situieren.

„Entwicklung in Graz wird politisch ignoriert"
Die Stadt Graz schließt Grossmann von der allgemeinen Thematik überhaupt nicht aus. Er forscht hier schon seit rund 30 Jahren. „Graz ist, was die Entwicklung in dieser Zeit anlangt, eine totale Katastrophe. Die Wärmeabstrahlung zeigt ihre Ergebnisse. Und was tut man? Weiter betonieren. Die Oberflächenwässer überfluten Straßen und Häuser, Bäche treten über die Ufer. Passiert dann ein größeres Malheur, dann wird*s die Feuerwehr schon richten“ Betroffene Menschen bleiben materiell geschädigt und psychisch teils paralysiert zurück. „Das alles wird von der Politik – und wir haben derzeit die schlechteste Stadtregierung - ignoriert“ so Grossmann.
Und weiter: „Wir haben während dieser 30 Jahre laufend darauf hingewiesen, dass zum Beispiel das Stadtklima sehr schlecht ist. Wir sehen im Monitoring, dass alles sukzessiv zubetoniert wird. Neue Grünanlagen sind nicht zu sehen, die vielfach vorgeschlagenen Rasenziegel sind Marginalien, wenn überhaupt vorhanden. Ein paar Bäume setzen ist Alibi. Musterbeispiel dessen ist der Bezirks Andritz. Setzt sich das weiter so fort – und echte Maßnahmen sind nirgendwo erkennbar – wird das ganze Grazer Feld bald nur noch eine Betonwüste sein“.
In dieser Situation von Graz wäre vor allem die laufende Kommunikation mit der Bevölkerung ein wichtiger Baustein. „Wir von der UNI aus hatten dies zwischen 2013 und 2016 in einer ARGE Hochwasser in Zusammenarbeit mit der Wasserwirtschaft des Landes Steiermark und der Berufsfeuerwehr der Stadt Graz und den Bürgerinitiativen von Andritz und St. Peter versucht. In Bezirks-Info-Abenden und der tausendfach verteilten Broschüre „Hochwasser – ich sorge vor“. Aber die Politik wollte das nicht. „Doch tun wir weiter so, wie bisher, nämlich nur schauen und hoffen, dann werden uns unsere Kinder und Enkel fragen: warum habt ihr so lange zugewartet …“
Erich Cagran

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